04-06-2020

Rassismus spielt eine Rolle

[Alle Texte findest du unten]

Rassismus spielt in meinem Leben eine Rolle, seit ich mich an mein Leben erinnern kann. Damals als kleines Kind, als meine Mutter immer wieder gefragt wurde, woher sie uns adoptiert habe oder damals im Zug, als ich mit meinem Vater aufs Land fuhr und der Zugbegleiter fragte, ob der N* auch ein Ticket habe. Aber auch später, als mein Nachbar überrascht war, dass mein kleiner Bruder akzentfrei Schweizerdeutsch redete oder damals, als ich gut hätte rennen, singen und tanzen sollen. Rassismus spielt auch heute eine Rolle, wenn meine Kollegin neben ihrem Kind niederkniet und sagt: «Hast du ihre Haare gesehen? Das sind wirklich ihre Haare, die sind echt.» Rassismus ist ein Teil unserer Welt.

Vielleicht mögen ihnen diese Alltagsbeispiele nicht schlimm erscheinen. Das tun sie vielen nicht. Ich wurde oft gebeten, nicht alles zu dramatisieren. Schliesslich würden Rothaarige auch diskriminiert oder kleine oder übergewichtige Menschen. Doch Diskriminierung wird nicht weniger schlimm, wenn man sie relativiert oder davon ablenkt. Es ist nicht nur «sinnlos» eine Diskriminierung mit einer anderen zu vergleichen, sondern ignoriert die unzähligen Varianten von Mehrfachsdiskriminierung. Brauchen wir wirklich zu sehen, wie ein Schwarzer von einem Weissen getötet wird, um zu realisieren, dass etwas nicht stimmt? Um darüber zu sprechen, weil es erst dann genug schlimm ist? Erhalten wir erst dann den Platz, die Missstände zu thematisieren?

Auch in der Schweiz

Es mag uns hierzulande nicht so drastisch scheinen, wie das, was wir von weit weg mitbekommen. In den USA tötet Rassismus, aber auch hier ist er alltäglich. Wie alles, was uns schockiert und dazu bewegt, andere zu beschuldigen, lohnt es sich, einen Moment lang innezuhalten und sich zu fragen, welche Position man selbst einnimmt. Denn auch hierzulande sind viele unserer Gedanken Überbleibsel einer längst widerlegten Rassenpolitik, die dunklere Menschen helleren Menschen unterordnete. Wir alle haben Vorurteile. Sie schränken uns ein, wirken wie ein Filter, der die eigene Wahrnehmung beeinflusst. Informationen, die in das eigene Schema passen, schenkt man mehr Aufmerksamkeit. Oft sind wir dazu bereit, Unmengen von Energie zu investieren, um diese von Vorurteilen geprägte Meinung aufrechtzuerhalten. Zu beweisen, dass es so etwas wie Rassismus nur woanders gibt, aber nicht hier bei uns. Um sich selber, seine Sprache und seine Handlungen zu rechtfertigen. Wir sagen gerne, dass wir es nicht so gemeint haben, dass es ein Witz sei oder gar, dass unsere Handlungen berechtigt seien, weil man schlechte Erfahrungen gemacht hat.

Angst vor dem Schwarzen Mann?

Verhaltensveränderungen gehören bekanntlich zu den schwierigsten aller Unterfangen. Unser Gegner dabei sind wir selbst. Faktisch gesehen sind wir unfähig, Dinge objektiv wahrzunehmen. Auch wenn wir es gerne verneinen, wir alle haben Vorurteile, das ist sogar menschlich. Aber die Gabe, zu hinterfragen und reflektiert zu denken, ist ebenso menschlich. Es gibt ganz viele Menschen unter uns, die ihre Vorurteile noch nicht verfestigt haben: Unsere Kinder. Sie bilden die Zukunft. Wir formen ihre Welt und damit die unsere – durch die Art, wie wir sprechen und handeln.

Obwohl es niemand bei dem Spiel «Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?», wirklich böse meinte, lernten wir Kinder von Anfang an, dass man vor Schwarzen Männern Angst haben muss und wegrennen sollte. Es ist nicht unsere Schuld, dass Stereotype und Vorurteile in uns sind, in unserer Kultur und unserer Sprache verankert. Es ist auch nicht unsere Schuld, wenn wir tatsächlich mehr Angst haben von Schwarzen Menschen als von weissen. Aber es liegt an uns, nachzudenken, bevor wir handeln. Es liegt an uns, gegen diese Vorurteile und Ängste anzukämpfen und laut zu werden, wenn etwas nicht stimmt. Denn Vorurteile können nur so lange existieren, wie wir sie wiederholen, solange, wie wir daran glauben und nichts dagegen unternehmen. In unserer Sprache, unseren Büchern, unseren Kinderspielen zeigt sich unsere Weltanschauung. Sie ist unsere stärkste Waffe und wird so oft zur Verfolgung der falschen Ziele verwendet.

Wer als Afroeuropäerin in einem weissen Land aufwächst, fällt auf. Entweder man ist gut, oder man ist, was erwartet wird. Aber wir polarisieren immer, werden stetig geprüft, ob wir nun das Klischee bestätigen oder nicht. Das lernen wir früh. Wenn wir gut sein wollen, müssen wir überdurchschnittlich gut sein. Wir müssen laut sein, wenn wir dasselbe wollen. Und genau deshalb sind wir heute laut, um endlich gehört zu werden.

zu Wort melden

Ich hätte mir damals gewünscht, dass sich die anderen Leute im Zugabteil zu Wort gemeldet hätten oder, dass ich bereits mit 17 Jahren den Mut gehabt hätte, mein Haar offen zu tragen beim Vorstellungsgespräch. Heute wünsche ich mir dasselbe. Ich wünsche mir, dass wir alle neugierig sind, historisch neugierig. Uns fragen, wie ist es dazu gekommen, dass wir so denken, so fühlen, sprechen und leben? Es hätte nämlich auch anders kommen können. Es ist ein reiner Zufall. Ich weiss, es ist nicht unanstrengend, seine Art zu leben und zu denken mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Wir wachsen in einer Gesellschaft auf, atmen die Luft unseres Elternhauses, unserer Strasse, unserer Umgebung ein und nehmen sie als absolut. Nehmen sie als natürlich, als selbstverständlich. Aber wir alle sind das Resultat unserer eigenen Vergangenheit und der Vergangenheit der Gesellschaft, in der wir leben.

Wer eine Veränderung wünscht, muss zuerst sich selbst ändern. Es liegt in unserer Sprache, in unserer Kultur, aber es liegt auch in unserer Hand. Also handelt, auch wenn ihr diesen Kampf nicht an der Front führt. Es geht hier nicht um weiss gegen Schwarz. Es geht um alle gegen Rassismus. Denn wir haben ein Problem. Weltweit. Auch hier. Es ändern zu wollen, mag anstrengend sein. Vielleicht haben sie die mediale Flut zum Thema Rassismus sogar satt. Denken Sie in diesem Fall daran, wie satt es diejenigen Menschen haben, die Rassismus täglich erfahren.

Weitere Texte zum Thema Rassismus:
Meine Tipps, wie man aktiv werden kann gegen Rassismus findest du hier: Annabelle (online)

Eine Afroeuropäerin erklärt, was wir tun können

Rassismus ist keine Meinungssache (nau.ch)

Wie rassistisch ist die Schweiz? (Schweiz am Sonntag)

• Fernseh-«Arena» nimmt einen neuen Anlauf (NZZ)

„Woher kommst du?“ ist keine blosse Interessensfrage (Friday Magazine)

Einer meiner Lieblingstexte, geschrieben von Laura Saia:

  • – Wenn Birken blühen (NZZ)
    [Laura hat mich vor der Veröffentlichung dieses Textes kontaktiert und wir haben uns lange unterhalten. Ich bin so froh, dass sie ihn nun veröffentlicht hat, denn er zeigt so deutlich, worum es geht.
    Vielen Dank liebe Laura Saia für deine Worte und dafür, dass du Lehrerin bist. ]